Therese vom Kinde Jesus (1873-1897)

"Mein Weg ist ganz Vertrauen und Liebe"

Der geistliche Weg der hl. Therese von Lisieux

Wer ist Therese von Lisieux? Je nach Blickwinkel gibt es darauf sehr verschiedene Antworten: ein überbehütetes Mädchen aus streng-katholischem, betont fromm, aber eben auch kleinbürgerlich eng wirkendem Elternhaus, das im ausgehenden 19. Jahrhundert mit 15 Jahren in den Karmel eintrat und gut neun Jahre später qualvoll an Tuberkulose starb. Eine tapfere junge Frau, die in einem von Ängstlichkeit und Leistungsfrömmigkeit geprägten Milieu die befreiende Kraft des Evangeliums wiederentdeckt und "das Erstaunliche fertiggebracht hat, auf dem falschen Geleise, auf das man sie geschoben, schließlich doch richtig zu fahren" (Hans Urs von Balthasar). Ein Mensch, der so überzeugend und so herzerfrischend natürlich aus dem Vertrauen auf Gottes erbarmende Liebe und aus einer tiefen Freundschaft mit Jesus lebte, dass sie auch heute noch - allen verkitschten Darstellungen zum Trotz - Menschen in ihren Bann zu ziehen vermag. Eine Freundin und Wegbegleiterin für alle, die heute ihren Alltag in Beruf und Familie geistlich gestalten wollen und ganz besonders für alle, die unter seelischen Nöten oder Glaubensnot leiden.

Allerdings erschließt sich die befreiende Kraft ihrer geistlichen Botschaft nur dem, der sich von der manchmal blumigen Sprache des 19. Jahrhunderts nicht abschrecken lässt. Wer aber hinter der 'unmodernen' Ausdrucksweise den ringenden, liebenden Menschen zu entdecken vermag, dem mag es so gehen wie Edith Stein, die einer Freundin auf deren Einwände antwortete: "Was Sie über die kleine Theresia schrieben, hat mich überrascht. Ich habe daraus erst gesehen, dass man es von dieser Seite sehen kann. Mein Eindruck war nur der, dass hier ein Menschenleben einzig allein von der Gottesliebe bis ins Letzte durchgeformt ist. Etwas Größeres kenne ich nicht, und davon möchte ich soviel wie möglich in mein Leben hineinnehmen und in das aller, die mir nahe stehen" (Brief an Adelgundis Jaegerschmidt OSB vom 17. März 1933).

Mit seelischen Nöten und Glaubensnot vertraut
Therese hat viel gelitten. Sie hatte ein sehr empfindsames Gemüt. Diese hohe Sensibilität machte sie nicht nur besonders liebesfähig und liebesbedürftig, sondern sie bescherte ihr auch viel seelisches Leid. Der Verlust der Mutter mit vier Jahren und der Ersatzmutter, ihrer geliebten Schwester Pauline, mit neun Jahren hinterließen tiefe Wunden in der zarten Kinderseele. Psychosomatische Beschwerden, neurotische Nöte, Überempfindlichkeit, Ängstlichkeit, durch ihre religiöse Erziehung geförderte Skrupelhaftigkeit - mit all dem war Therese vertraut.
Befreiung und Heilung fand sie in dem Maße, wie ihr der zärtlich liebende Gott Jesu aufleuchtete. Dieses Gottesbild stand diametral gegenüber dem strengen Richtergott des damals weit verbreiteten Jansenismus, aber es begegnete ihr auf jeder Seite des Evangeliums: "Ich finde nichts mehr in Büchern außer im Evangelium, das genügt mir" (Letzte Gespräche, 15. Mai 1897).
Auch Glaubensnot ist ihr nicht erspart geblieben. Die letzten eineinhalb Jahre ihres Lebens waren nicht nur von schweren körperlichen Leiden geprägt, die durch die fortschreitende Tuberkulose zunehmend Geschwächte ging darüber hinaus durch eine tiefe Glaubensnacht: "In den so frohen Tagen der Osterzeit ließ Jesus mich fühlen, dass es tatsächlich Seelen gibt, die den Glauben nicht haben... Er ließ zu, dass dichteste Finsternisse in meine Seele eindrangen... Man muss durch diesen dunkeln Tunnel gewandert sein, um zu wissen, wie finster er ist" (Selbstbiographische Schriften, Ms. C, 219). Thereses Ja zu dieser Prüfung ließ sie solidarisch werden mit allen, die nicht glauben können, und zugleich läuterte und vertiefte es ihre Liebe zu dem, "der mir diese Prüfung erst geschickt hat, als ich die Kraft hatte, sie auszuhalten" (ebd., 223). Nicht jugendlicher Überschwang, sondern in tiefster Not gereifte Hingabe ließ sie ausrufen, dass ihr nur mehr eines wichtig sei: "lieben, bis ich vor Liebe sterbe" (ebd.).

Vertrauen und Liebe
Das ist der Kern ihrer Botschaft: Therese ist zutiefst überzeugt, dass unser Leben keinen anderen Sinn hat als den, liebende Menschen zu werden. Sie möchte keine Gelegenheit auslassen, um Jesus "mit kleinen Dingen Freude zu machen" (Brief an ihre Schwester Céline vom 26. April 1894), und vor allem, um ihre Mitmenschen so lieben zu lernen, wie Gott sie liebt: "Ich begreife, dass die vollkommene Liebe darin besteht, die Fehler der anderen zu ertragen, sich nicht über ihre Schwächen zu wundern, sich an den kleinsten Tugendakten zu erbauen..." (ebd., 232).
Dem geht aber etwas voraus: So lieben lernen kann nur, wer sich vom Urgrund des Lebens selbst - von Gott - umsonst und bedingungslos geliebt weiß, vor jeder Leistung und unabhängig von allem Versagen.
Wie wohl die meisten Menschen musste Therese um dieses restlose Vertrauen ringen, aber sie hat immer tiefer erfahren, dass es ihr Flügel verlieh. Gegen Ende ihres kurzen Lebens schreibt sie einem jungen Priester, den sie auf seinem geistlichen Weg begleitet: "Mein Weg ist ganz Vertrauen und Liebe. Ich verstehe die Seelen nicht, die sich vor einem so zärtlichen Freund fürchten" (Brief vom 9. Mai 1897 an P. Roulland). Nicht von ungefähr sind "Vertrauen und Liebe" auch die Schlussworte ihrer Selbstbiographischen Schriften.

Der "kleine Weg": ein völliger Perspektivenwechsel
Ein schönes, aber unerreichbares Ideal? Auch Therese hat unter der Spannung zwischen hohem Ideal und armseliger Wirklichkeit gelitten. Gerade die radikale Erfahrung ihrer Grenzen ließ sie ihren "kleinen Weg" entdecken, "einen recht geraden, recht kurzen" (Selbstbiogr. Schr., Ms C, 214). Das Geheimnis dieses Weges ist im Grunde sehr einfach; es besteht aus einem völligen Perspektivenwechsel: "Das Verdienst besteht nicht in vielem Tun und Geben, sondern im Empfangen, im vielen Lieben" (Brief an ihre Schwester Céline vom 6. Juli 1893).
Therese macht uns Mut, nicht länger auf uns selbst, unsere Leistungen und unser Versagen zu schauen, sondern stattdessen alles von Gott und seinem Erbarmen zu erwarten: "Was Gott gefällt, das ist, zu sehen, dass ich meine Kleinheit und meine Armut liebe - das ist das blinde Vertrauen, das ich in seine Barmherzigkeit habe... Das ist mein einziger Schatz" (Brief an Sr. Marie du Sacré Coeur vom 17. Sept. 1986). Ein bequemer Weg ist das nicht: "Man muss zustimmen, stets klein und machtlos zu bleiben, und das ist wahrhaftig schwer" (ebd.).
Therese hat jedoch begriffen: "Die Heiligkeit besteht nicht in dieser oder jener Übung. Sie besteht in einer Herzensbereitschaft, die uns demütig und klein in den Armen Gottes macht, in der wir uns unserer Schwäche bewusst sind und bis zur Verwegenheit auf die Güte des Vaters vertrauen" (Letzte Gespräche, 3. Aug. 1897). Je armseliger sie sich erlebt, desto größer ist ihr Vertrauen auf Gottes erbarmende Liebe: "Hätte ich auch alle nur begehbaren Sünden auf dem Gewissen (!), ich ginge hin, mich in die Arme Jesu zu werfen, denn ich weiß, wie sehr er das verlorene Kind liebt, das zu ihm zurückkehrt" (Selbstbiogr. Schr., Ms C, 275).

Jesus in uns wirken lassen
Beim kleinen Weg geht es um mehr als nur um die Annahme unserer selbst mit all unseren Schwächen und Fehlern, auch um mehr als nur um das Ausnutzen der einfachsten Gelegenheiten, um der Liebe Raum in uns zu geben. Es geht darum, Gott gerade in unserem Unvermögen am Werk zu sehen, uns von seiner Liebe ergreifen und verwandeln zu lassen, Jesus in uns wirken zu lassen: "Ich bin weit davon entfernt, eine Heilige zu sein," aber "ich glaube ganz einfach, dass Jesus selbst, im Grunde meines armen kleinen Herzens verborgen, mir die Gnade erweist, in mir zu wirken, und dass er mir alles eingibt, was ich nach seinem Willen im gegenwärtigen Augenblick tun soll" (Selbstbiogr. Schr., Ms A, 167). Statt sich entmutigen zu lassen, betet Therese: "O Herr, ich weiß, dass du nichts Unmögliches befiehlst, du kennst meine Schwachheit und meine Unvollkommenheit besser als ich, du weißt, dass ich meine Schwestern niemals so lieben könnte, wie du sie liebst, wenn nicht du selbst, o mein Jesus, sie in mir liebtest" (ebd., Ms C, 232f.).
Therese beschreibt hier nicht nur ihren ganz persönlichen Weg, sie ist überzeugt, dass dieser Weg jedem suchenden Menschen offen steht: "O Jesus, könnte ich doch allen kleinen Seelen sagen, wie unaussprechlich dein Entgegenkommen ist" (Selbstbiogr. Schr., Ms B, 207). "Fürchte dich nicht, je ärmer du bist, um so mehr liebt Jesus dich. Er wird weit gehen, sehr weit, um Dich zu suchen, wenn du dich zuweilen verirrst" (Brief an ihre Schwester Céline von Weihnachten 1896).
Sie selbst will über den Tod hinaus dabei mithelfen: "Ich spüre, dass meine Sendung anfangen wird, meine Sendung, den lieben Gott so lieben zu lehren, wie ich ihn liebe, den Seelen meinen kleinen Weg zu zeigen... Ja, ich möchte meinen Himmel damit verbringen, auf Erden Gutes zu tun" (Letzte Gespräche, 17. Juli 1897).
Eines ihrer letzten Worte, wenige Stunden vor ihrem Tod, lautet: "Ich bereue es nicht, mich der göttlichen Liebe ausgeliefert zu haben. Im Gegenteil!" (ebd., 30. Sept. 1897).

"Jesus,
da ich meine Ohnmacht
fühle,
sei du selbst meine
Heiligkeit!"

"Ich werde Ihnen helfen,
mit Jesus vertraut zu leben...
Man kann das nicht
an einem Tag erreichen.
Aber ich bin gewiss,
ich werde Ihnen viel helfen,
diesen wunderbaren
Weg zu gehen..."